Thema: Aggression und Demenz
Wer mit Menschen mit Demenz zu tun hat – ganz gleich ob im professionellen oder im privaten Bereich – der kennt das: plötzlich auftretendes aggressives Verhalten bei demenzerkrankten Menschen und Das häufig ohne für uns ersichtlichen Grund.
Diese „Aggression“ – und ich setze das hier bewusst in Anführungszeichen – zeigt sich auf verschiedene Art und Weise: als tätlicher Angriff, als verbaler Ausfall und und und. Der Umgang damit ist für niemanden wirklich leicht – auch für uns Pflege-Profis stellt es nicht selten eine große Herausforderung dar, die es zu meistern gilt.
Doch was ist Aggression? Ist es nicht letztlich das eigene Unvermögen, mit bestimmten Situationen auf eine besonnene Weise umzugehen? Das Hochschaukeln von Emotionen, die sich auf eine sehr unvorteilhafte Art und Weise für beide Seiten entladen?Und wie ist es in der Demenz?
Ich habe die Erfahrung gemacht, das aggressives Verhalten bei demenzkranken Menschen keiner wirklich boshaften Absicht folgt, sondern schlicht und ergreifend das Resultat aus Angst, Unsicherheit, Überforderung und des sich Bedrohtfühlens sind. Die Ursachen für plötzliche und scheinbar unbegründet auftretende Aggression bei Demenz können also vielfältig sein.
Wir müssen verstehen, das ein Mensch mit Demenz seine Umwelt anders wahrnimmt, als ein gesunder Mensch. Der Mensch mit Demenz handelt – je nach Schweregrad der Erkrankung – rein aus emotionalem Empfinden und nicht selten aus Selbstschutz heraus. Seine Möglichkeiten werden also mit zunehmendem Schweregrad der Demenz immer geringer, um mit Alltagssituationen, die für uns so selbstverständlich sind, fertig zu werden. Überforderung ist da schnell vorprogrammiert – und die entsprechende Reaktion des Betroffenen darauf ebenso.
Fazit: Aggression ist nicht selten die einzige Möglichkeit für den Demenzerkrankten seinem Gegenüber zu mitzuteilen, das etwas für ihn nicht stimmt.
Rat vom Pflege-Profi: niemals persönlich nehmen, niemals mit Gegen-Aggression reagieren, sondern mit Rückzug und zu einem späteren Zeitpunkt ganz neu in die Situation zurückkehren, als wäre nie etwas passiert. Denn für den Betroffenen, der sein „aggressives“ Handeln möglicherweise längst wieder vergessen hat, ist auch nie etwas passiert
Thema: Wahrnehmung und Demenz
Demenz ist eine degenerative Erkrankung des Gehirns. Mit Fortschreiten der Erkrankung nehmen auch die Beeinträchtigungen des Betroffenen zu. Das Kurzzeitgedächtnis ist stark beeinträchtigt, das Langzeitgedächtnis bleibt meist noch recht lang erhalten.
Für den demenzerkrankten Menschen wird das Um-Sich-Herum immer verwirrender, unverständlicher und nicht zuletzt zur Überforderung. Was folgt ist der Rückzug in sich selbst, der Rückzug aus und von dem einstigen Leben und all den Menschen, die darin Teil waren. Erinnerungen gehen verloren und damit auch der Bezug zur eigenen Persönlichkeit. Mehr und mehr kehren sie in ihre eigene Vergangenheit zurück – ja bis zurück in ihre Kindheit, in ihre ganz eigene Realität. Dazu gehört das Vergessen des Ehepartners, der eigenen Kinder – die eigenen Familiemitglieder werden zu Fremden.
Wie oft erlebte ich verzweifelte Angehörige, die ihre Mütter und Väter in Pflegeeinrichtungen besuchen kamen und die Einrichtung unter Tränen wieder verließen. Zu sehr schmerzte es sie, das sie von der eigenen Mutter, dem eigenen Vater nicht mehr erkannt wurden. Mütter und Väter, zu denen einst aufgeblickt wurden und die nun – aufgrund der Demenz – nur noch Schatten ihrer selbst sind.
Wieviele Angehörige, die daran zerbrochen sind, weil sie nicht die Kraft haben mit dem Schicksal ihrer Eltern umzugehen?
Die Welt des Erkrankten wird mit zunehmender Demenz immer kleiner und beschränkt sich am Ende nur noch auf sich selbst. Auch das eigene Körpergefühl kann verloren gehen. Kennen Sie den Satz: „ich spüre mich nicht mehr!“ ? Ist der Mensch länger bettlägerig, können auch Bemerkungen folgen wie: „ich schwebe“, „ich falle“ – und das, obwohl sie ruhig in ihrem Bett liegen und sich nicht bewegen.
Ähnlich wie man Radiomusik aus dem Bewusstsein verdrängen kann, wenn die Musik nicht bewusst gehört wurde, so kann auch das Gespür für die eigenen Körpergrenzen verloren gehen.
Auch die Tiefenwahrnehmung im Raum nimmt zusehends ab, je weiter die Demenz fortschreitet. So kann es passieren, das der Betroffene exakt an der Schwelle zu einem andersfarbigen Untergrund stehen bleibt und nicht weitergehen will. Lief er zuvor auf hellem Boden und der Bodenbelag ändert sich zu dunkel, kann dies für ihn ein möglicher Abgrund sein. Die Angst zu fallen besteht auch bei stark fortgeschrittener Demenz. Nicht selten erlebte ich, wie der Betroffene zunächst vorsichtig den Boden mit dem Fuß abtastete, ehe er bereit war weiterzugehen.
Der Mensch mit Demenz hat zudem sein eigenes Tempo. Sein durch die Erkrankung degeneriertes Gehirn kann Reize nur noch eingeschränkt verarbeiten, was wiederum Ängste, Abwehrreaktionen und das Bedürfnis, sich überall „festzukrallen“ hervorruft. Hier ist ein sensibler Umgang gefragt. Sind wir für ihn zu schnell im Umgang mit ihm – ganz gleich was wir tun – wird vom Betreffenden meist mit einem „dagegen-arbeiten“ reagiert. Sehr unangenehm für beide Seiten. Da aber auch ein dementes Gehirn noch lernen kann, lernt er daraus, mit Angst und Abwehr auf uns zu reagieren. Es ist kein bewusstes Verhalten. Der Betreffende verknüpft ein wiederkehrendes Ereignis mit negativen Emotionen. Das Ereignis wird zwar wenig später vergessen – die damit verbundene Emotion jedoch nicht!
Für die Person, die einen Menschen mit fortgeschrittener Demenz betreut heißt das also, sich dem Tempo des Erkrankten anzupassen, denn umgekehrt kann der Betroffene es nicht mehr.
Thema: Demenz im privaten Bereich
Wer sich dazu entscheidet, ein Familienmitglied bei dem Demenz festgestellt wurde, im privaten Bereich betreuen zu wollen, der sollte im Vorfeld wissen, welchen Herausforderungen er sich zukünftig gegenüber sehen wird. Nein, es soll niemandem Angst machen, dennoch erlebte ich in all den Jahren immer wieder, wie sehr sich Angehörige übernommen hatten.
Demenz wird mit Fortschreiten der Erkrankung eine immer größere Herausforderung für das Umfeld des Betroffenen und natürlich zu einem immer größeren Leid für den Betroffenen selbst. Laien können nicht abschätzen, welche Veränderungen dieses Krankheitsbild für die Persönlichkeit des Betroffenen mit sich bringt und welche Auswirkungen es im Alltag haben wird. Erwachsene Menschen werden durch die Erkrankung nach und nach wieder hilflos wie kleine Kinder – und verhalten sich mitunter auch so. Es wird Sie nicht nur körperlich, sondern vor allen Dingen psychisch sehr beanspruchen. Sie werden es mit einem Ihnen völlig fremd gewordenen Menschen zu tun haben.
Situationen werden unberechenbar. Der Erkrankte ist nicht mehr derselbe Mensch, der er einst war. Nicht selten wird er aber noch als der Mensch gesehen, der er war. Nicht selten werden aufgrund dessen Erwartungen an ihn gestellt, die er nicht mehr erfüllen kann.
Die Demenz hat ihn verändert, sein Wesen und seine Persönlichkeit verändert. Der Betroffene kehrt mehr und mehr in seine Vergangenheit zurück. Der Alltag wird mehr und mehr zur Überforderung für alle Beteiligten. Selbst die einfachsten Tätigkeiten können bald nicht mehr ausgeübt werden. Worte verlieren Sinn und Bedeutung und werden nicht mehr verstanden. Mißverständnisse sind vorprogrammiert. Die eigene Sprache geht mehr und mehr verloren. Bald stellen sich Wortfindungsstörungen ein, Gespräche sind nicht mehr möglich. Je weiter die Demenz fortschreitet, je mehr wird der Betroffene zum Schatten seiner selbst. Das, was den Menschen einst ausmachte, geht nach und nach verloren. Starke Stimmungsschwankungen gehen mit der Erkrankung einher, die teilweise von Augenblick zu Augenblick wechseln.
Auf was muss man sich konkret einstellen, wenn man ein Familienmitglied mit Demenz zu Hause betreuen möchte?
- plötzlich auftretende Aggressionen verbal wie körperlich (Beschimpfungen, Treten, Schlagen, Beißen)
- Unruhezustände wie rastloses Umherlaufen, Suchen nach Personen aus der eigenen Vergangenheit
- Probleme in der Ernährung und Schluckstörungen
- Inkontinenz
- zunehmende Hilfebedürftigkeit selbst bei den einfachsten Dingen des Alltags
- Wahnvorstellungen, Verlustängste, Bestehlungswahn, unberechtigte Beschuldigungen für Dinge, die in Wirklichkeit so nie passiert sind
- Weglauftendenzen, Bewegungsdrang
- Verkennen von Situationen, Gefahren und Risiken
- zunehmende Orientierungslosigkeit zum Ort, zur Zeit und zur eigenen Person
- die eigene Familie und Freunde werden zu Fremden und nicht mehr erkannt
- ständiges Verlegen und Suchen von Gegenständen
- Angst- und Verwirrtheitszustände
- Verlust des Denkvermögens, motorische Ausfälle, Sinnestäuschungen
Pflege daheim ist ein Job ohne Feierabend – und das 7 Tage die Woche. Häufig muss der eigene Job an den Nagel gehängt werden, um die Betreuung des an Demenz erkrankten Familienmitgliedes zu gewährleisten. Pflege daheim bedeutet nicht zuletzt auch, sein eigenes Leben zurückzustellen.
Es heißt, man solle den an Demenz erkrankten Menschen so lange wie möglich in vertrauter Umgebung belassen. In seiner Desorientierung gibt ihm das Halt und Sicherheit, denn plötzlicher Umgebungswechsel kann Verwirrtheitszustände verstärken. Eine Betreuung zu Hause ist einer Pflegeeinrichtung nach Möglichkeit immer vorzuziehen. Dennoch muss man damit rechnen, das irgendwann ein Stadium der Demenz erreicht ist, an dem Pflege daheim nicht mehr möglich, nicht mehr leistbar ist und sein betroffenes Familienmitglied in professionelle Hände geben. Sie müssen auch wieder an sich denken, Kraft tanken. In einer professionellen Einrichtung hat man noch einmal ganz andere Möglichkeiten, den Bedürfnissen ihres Familienmitgliedes gerecht zu werden. Hier ist man geschult im Umgang mit an Demenz erkrankten Menschen. Es ist eine Chance – für beide Seiten 🙂
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